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Reisebericht: Warszawa Dezember 2000
Im Jahr 2000 hat der Tag in Warszawa 24 Stunden. Die Syrenka, das ist
die fischschwänzige Wappenjungfrau der Stadt, hält ein Schild
in der rechten und ein Schwert in der linken Hand. Oder war es umgekehrt?
Wir jedenfalls sind am Centralny angekommen und halten unsere Taschen
fest. Die Taxis mit den ehrlichen Fahrern stehen weder links noch rechts,
sondern gegenüber vom Mariott Hotel.
Wir verbringen das Wochenende in einer Suite im Plattenbau: M6, das 60
qm Standardmodell für eine vierköpfige Familie der 70er Jahre.
Das Quartier liegt in Praga, dem Stadtteil am östlichen Ufer der
Wisla. Nicht weit entfernt ist Globi, ein postkommunistischer Supermarkt.
Früher hiess er SAM: nicht nach dem alten Kapitalistenonkel, "sam"
bedeutet "Selbst", in diesem Fall -Bedienung (siehe aber auch:
Samochod = Automobil). Jetzt aber, im Zeitalter der Globilisierung, ist
das Parken nur für Kunden erlaubt.
Unser Interesse gilt in erster Linie der Kulturszene Warschaus, wenngleich
unser Kulturbegriff eher weit gefasst ist und Esskultur zum Beispiel einen
sehr wichtigen Stellenwert einnimmt. grzyby z kapusta, pierogi z cebulka,
surowka z marchewki, celera, pora i burakow. I dwa kilo kartofli!
Zufällig findet an diesem Wochenende der Kongres Polskiej Kultury
statt, erfahren wir aus Gazeta Wyborcza, der traditionellen pro-Solidarnosc-Tageszeitung
Warschaus. Genau gesagt: Die Stammkundin der Wiener Linien, die des Polnischen
kundig ist, erfährt es aus der Zeitung und wird dann von der in Wien
Kommunalwahlberechtigten ausgefragt, die sich den Artikel schon vorher
angeschaut hat.
Der Kongres Polskiej Kultury ist eine große, repräsentative
Veranstaltung, die den Anspruch hat, richtungsweisend für die künftige
Entwicklung der polnischen Kultur zu sein. Es ist der erste Kongress seit
1981, genauer seit dem 13. Dezember 1981. Ein Datum, an das PolInnen sich
noch sehr gut erinnern: Damals wurde die Veranstaltung durch das Militär
abgebrochen, als um 12.00 Uhr mittags General Jaruzelski das Kriegsrecht
im Land ausgerufen hat. Panzer fuhren auf die Straßen Warschaus,
die Kulturschaffenden Polens, die an diesem Tag zum Kongress versammelt
waren, wurden verhaftet und interniert, sofern sie nicht rechtzeitig die
Flucht ergreifen konnten. Heute werden wichtige Kultur- und Medieninstitutionen
des Landes von den 1981 gegen das sozialistische Regime Protestierenden
geleitet. Trotz der interessanten historischen Aspekte erscheint uns die
Ausrichtung des Veranstaltung im Wesentlichem zu konservativ und die Frage
nach einer nationalen Kulturdefinition nicht sehr spannend.
Im Univiertel finden wir neben feministischen anti-katholischen Schablonengraffitis
- "Kobieto: badz wola swoja a nie dewotek!" - und dem Slogan
"Zaden czlowiek nie jest nielegalny" auch ein Plakat "Uwaga:
mlody dokument!", das auf ein kleines Dokumentarfilmfestival mit
polnischen Produktionen hinweist –; wie sich später herausstellt,
eine Begleitveranstaltung zum Kulturkongress.
Zwei Produktionen beschäfigen sich mit Lebenswelten in Polen abseits
der glanzvollen Metropole Warschau. Sie wurden zuvor schon im polnischen
Fernsehen ausgestrahlt und sind englisch untertitelt. Sowohl "Arizona"
(Regie: Ewa Borzecka) als auch "Dziewczyny z Szymanowa" (Regie:
Magdalena Piekorz) wurden von einer breiten Öffentlichkeit kontroversiell
diskutiert. Die Fragestellungen, an denen sich diese Diskussionen orientierten,
werden dann auch im Publikumsgespäch mit den Regisseurinnen deutlich.
Beiden wird insbesondere vorgeworfen, Einfluss auf das Geschehen vor der
Kamera genommen und die dargestellten Personen zu Äußerungen
und Handlungen bewegt zu haben, die ohne Kamera nie stattgefunden hätten.
"Arizona" beschreibt den Alltag auf einem stillgelegten staatlichen
Landwirtschaftsbetrieb (PGR). Die ehemaligen Arbeiterinnen bewohnen nach
wie vor das Gelände. Die Sozialhilfe, von der sie heute leben, fließt
in Arizona, einen billigen Wein, der regelmäßig in großen
Mengen ins Dorf geliefert wird. Der Alkoholismus prägt das soziale
Gefüge. Vor laufender Kamera erzählen die BewohnerInnen Geschichten
und Situationen aus ihrem Alltag, die schäbige Umgebung bildet den
Hintergrund für ein zügelloses Leben. Trotz Armut und auswegloser
Lage entsprechen die ProtagonistInnen keinem Opferklischee.
Das Video "Dziewczyny z Szymanowa" ("Mädchen aus Szymanow")
dokumentiert das Leben im katholischen Internat Szymanow. Diese Eliteschule
für Mädchen wird von Ordensschwestern mit sehr hohem wissenschaftlichen
und moralischen Anspruch geführt. Harte Disziplin und fehlende Privatsphäre
bestimmen die Ausbildung. Eine Nonne vergleicht die Persönlichkeit
der Mädchen im Alter von 14 bis 18 mit einem Gelee, das in diesem
Zeitraum erstarrt: Noch sind korrigierende Eingriffe möglich. Die
Schülerinnen nehmen mit dem Gedanken an die Zukunft ihre Rolle in
diesem repressiven, von der Welt abgeschlossenen System wahr. Erst am
Ende des Films zerfetzen Absolventinnen in einer exzessiven Feier ihre
Schuluniformen.
Die Filmemacherin übt zwar keine explizite Kritik, die ambivalente
Situation der Mädchen wird aber in ausführlichen Interviews
deutlich. Weil Piekorz sich nicht an den vorgebenen starren Hierarchien
orientiert, wird sie beschuldigt, nicht ausgewogen zu berichten. Der grosse
Einfluss der katholischen Kirche auf die polnische Politik produziert
immer mehr Widerspruch in der Bevölkerung. So ist zu verstehen, warum
"Dziewczyny z Szymanowa" vom antiklerikalen Lager vereinnahmt
und von prokatholischer Seite als Beleidigung empfunden wurde. Uns scheint,
dass der Vorwurf mangelnder Objektivität in Zusammenhang mit der
gewählten Erzählperspektive steht: Auch in "Arizona"
können sich Personen selbst darstellen, die in gängigen TV-Dokumentationen
als Objekte der Beobachtung und karitativen Distanzierung gezeigt werden.
Zudem macht Borzecka keinerlei Vorschläge zur Verbesserung der Situation.
Die besprochenen Filme sind als Fernsehproduktionen für ein breites
Publikum bestimmt. Geld, Markt und Quote sind noch nicht alleine ausschlaggebend
dafür, dass etwas produziert werden kann, öffentliche Gelder
werden für ambitionierte Projekte zur Verfügung gestellt. Aus
den Diskussionsbeiträgen wird klar, dass es beim Publikum ein Bewusstsein
für politische Interessenskonflikte und ideologische Auseinandersetzungen
im Kulturellen gibt.
Hier öffnen sich unterschiedliche Kampfzonen für Filmemacherinnen
in Polen. Einerseits haben sie noch immer mit verknöcherten Zensurbestimmungen
zu kämpfen, andererseits kommen die von der Marktwirtschaft vorgegebenen
Beschränkungen auf sie zu. Das wird die Produktionsbedingungen in
der Zukunft bestimmt verändern. In einem Land, in dem Film wahrgenommen
und öffentlich diskutiert wird, bestehen Chancen auf Fortsetzung
der Tradition kritischer (Dokumentar-)Filme.
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